Die Grenzen des wissenschaftlichen Denkens
Wissenschaftler stoßen immer wieder auf Teilaspekte eines über die Grundideen der Wissenschaft hinausgehenden Wissens. Zum Beispiel ist die Konfrontationstherapie eine spezifische Anwendung des Prozesses, den ich als "Erkenntnisprozess" beschrieben habe. Aber weil dieser Art von Erkenntnissen im wissenschaftlichen Kontext das gedankliche Fundament fehlt, erlangen sie keine wirklich praktische Relevanz. Sie kommen im Leben der Menschen nicht auf breiter Basis an. Die weitaus meisten Menschen mit massiven Angstproblemen werden nach wie vor mit Medikamenten ruhig gestellt ohne eine realistische Aussicht auf Besserung. Die Konfrontationstherapie wird weder in ihrer zentralen Bedeutung für den Umgang mit Ängsten erkannt, noch sind alle Erfolgsparameter bekannt, um eine wirklich effektive Anwendung zu ermöglichen.
Das Entscheidende dabei ist nämlich nicht die Konfrontation, sondern der innere Umgang mit den aus der Konfrontation mit der Angst-machenden Situation resultierenden Gefühlen. Die Konfrontation ergibt sich im Alltag früher oder später sowieso (denn falls nicht, ist die entsprechende Angst für das Leben des Betroffenen irrelevant). Für viele Ängste sind gezielte Konfrontationen in einem künstlichen Umfeld auch nicht wirklich durchführbar. Vielmehr müssen die Betroffenen lernen, in ihrem Alltag zu ihrem natürlichen Verhalten zurückzukehren, wie es ist, wenn es nicht durch die Angst eingeschränkt ist. Und dann kommt es darauf an, die Angst ohne Blockade in sich "hochkommen" zu lassen, um schließlich zu erleben, wie sie sich völlig überraschend auflöst. (Dabei ist auch das Wissen nötig, dass Angst eigentlich eine positive Schutzfunktion hat, denn eine echte Angst lässt sich nicht auf diese Weise auflösen. Erst die Übertreibung einer Angst führt zur Verhaltenseinschränkung.) Diese Verwechslung der Prioritäten ist für die Wissenschaft typisch, denn die Konfrontation ist der äußere, messbare Vorgang, der wissenschaftlichen Beweisen zugänglich ist, während der Umgang mit den Gefühlen der nicht messbare inner-psychische Vorgang ist, der wissenschaftlichen Beweisen nicht zugänglich ist.
Der innere Umgang mit den Gefühlen ist deshalb so entscheidend bei der Überwindung von Angst, weil er eine Umorganisation der Psyche in Gang setzt, welche die Angstursachen auflöst. Schauen wir uns das kurz an zwei Entstehungsmustern von Angst an:
- Eltern, die das Verhalten ihres Kindes so stark einschränken, dass es sich nicht mehr natürlich entwickeln kann, weil sie Angst haben, ihrem Kind könnte "etwas passieren": Diese Angst kann man nicht einfach abstellen, denn sie hat "im richtigen Maß" eine natürliche Schutzfunktion. Eltern müssen das Verhalten ihres Kindes in einem gewissen Rahmen halten, um es zu schützen. Erst die Übertreibung dieser Angst führt zu einer ungesunden Einschränkung in der Entwicklung. Der rationale Verstand kann diese Aufgabe eigentlich nicht lösen, denn auf rein rationaler Ebene gibt es nur "Verhalten einschränken" oder "Verhalten nicht einschränken". Die Wahrheit liegt aber irgendwo dazwischen. Dieses "richtige Maß" punktgenau zu treffen, ist eine Funktion der nicht-rationalen Teile der Psyche und erfordert die Entwicklung der inneren Wahrnehmung. Wenn Eltern sich "ihrer Angst stellen", indem sie ihrem Kind ein Stück Verhaltensfreiheit mehr einräumen und die daraus resultierenden Gefühle offen in sich hochkommen lassen, dann kommt es innerhalb der Psyche zu einer Umorganisation: Die Entscheidung über "das richtige Maß" wird vom rationalen Verstand abgekoppelt und an die nicht-rationalen Teile der Psyche angeschlossen, wo sie eigentlich hingehört.
- Die wissenschaftliche Weltsicht selbst ist über ihre Grundidee eine der Hauptursachen für die Entstehung übertriebener Ängste (was sich auch an der rapiden Zunahme von Menschen mit Angstproblemen deutlich ablesen lässt). Die Grundidee der wissenschaftlichen Weltsicht lautet: "Das Verhalten des Universums wird von Naturgesetzen und Zufällen bestimmt." In einer Zufalls-bestimmten Welt kann "jederzeit alles Mögliche" passieren. So entsteht zum Beispiel die Angst, einfach so aus dem Nichts heraus an einer unheilbaren Krankheit wie Krebs zu erkranken, die wiederum zu zahlreichen zwanghaften Verhaltensweisen führen kann: Ständig nach Symptomen Ausschau halten und viel zu oft zum Arzt gehen, um sich bestätigen zu lassen, dass noch alles in Ordnung ist. (Auch hier spielt wieder "das richtige Maß" eine Rolle, denn gelegentliche Vorsorgeuntersuchungen sind durchaus sinnvoll.) Die Konfrontation mit der Angst erfolgt, indem die zwanghaften Verhaltensweisen aufgegeben werden. Sich den daraus resultierenden Angstgefühlen zu öffnen, ist auch hier wieder der Schlüssel zu einer Korrektur der Weltsicht. Vertrauen in die umgebende Welt, das ablaufende Geschehen, die eigenen Fähigkeiten und das eigene Schicksal muss dann nicht mehr mühsam antrainiert werden, sondern es entsteht ganz natürlich und mühelos als tief empfundene Wahrheit.