Das Dilemma der rationalen Isolation
Nun hatte ich bereits erläutert, wie der Verstand im Kontext seiner evolutionsgeschichtlichen Entwicklung den instinktiven Verhaltensantrieb als Verhaltenssteuerung verdrängte und gleichzeitig die innere Wahrnehmung immer mehr ignorierte, was wiederum dazu führte, dass die nicht-rationalen Teile der Psyche weitestgehend aus ihrer Funktion genommen wurden. Das beraubt den Verstand mehrerer essentiell wichtiger Werkzeuge zur Erfüllung seiner Aufgaben:
- Der instinktive Verhaltensantrieb (als Teil der inneren Wahrnehmung) wird bei den Entscheidungen über das Verhalten nur unzureichend berücksichtigt.
- Die innere Wahrnehmung beinhaltet eine (im Kontext der wissenschaftlichen Weltsicht nicht erklärbare) Verbindung zur Realität, welche die äußere Wahrnehmung um wichtige Informationen ergänzt. (Das wird von der Wissenschaft über den Begriff des "Unterbewusstseins" negiert, weil der Kopf als abgeschlossene Box gesehen wird, in die außer über die äußeren Sinnesorgane nichts hineingelangen kann. Wie absurd falsch diese Annahme ist, findet jeder heraus, der seine innere Wahrnehmung auch nur ansatzweise zu entwickeln beginnt.) Dass die innere Wahrnehmung nicht ausgewertet wird, hat Konsequenzen sowohl beim Aufbau der Weltsicht (die Realität wird unvollständig wahrgenommen) als auch bei der Bildung von Konzepten (die Situationen werden ungenügend differenziert: Es werden Situationen dem gleichen Verhalten zugeordnet, die eigentlich unterschiedlich gehandhabt werden müssten).
- Dem Verstand fehlt der "Erkenntnisprozess" als universelles Erkenntnisprinzip.
Als ich den Erkenntnisprozess für die Lösung von Problemen beschrieb (Aktionismus einstellen, Gefühle hochkommen lassen usw.), da habe ich aus Gründen einer vereinfachten Darstellung zur Einführung eigentlich nur eine spezifische Anwendung des Erkenntnisprozesses beschrieben. Tatsächlich ist der Erkenntnisprozess ein universelles Erkenntnisprinzip mit Dutzenden spezifischen Anwendungen, von denen Problemlösung nur ein Teilaspekt ist. Weitere Anwendungen des Erkenntnisprozesses sind unter anderem die Heilung chronischer Krankheiten und die Überwindung übertriebener Ängste.
Unter den spezifischen Anwendungen des Erkenntnisprozesses gibt es 3, die insofern eine Sonderstellung einnehmen, weil sie ganz direkt mit der Anpassung der Weltsicht an die Realität zu tun haben. Zwar wirken sich alle Anwendungen des Erkenntnisprozesses verändernd auf die Weltsicht aus, aber meistens geschieht das eher im Hintergrund, während vordergründig irgendein praktisches Problem gelöst wird. Diese 3 besonderen Anwendungen jedoch ergänzen den Verstand um Funktionen, die sich direkt auf die Ausformung seiner Weltsicht beziehen:
- Umgang mit Unwissen bzw. Überwindung von Unwissen
- Auflösung von Widersprüchen innerhalb der Weltsicht und zwischen Weltsicht und Realität
- Bewusstmachung der Grundideen der Weltsicht: Die Kette der Schlussfolgerungen innerhalb der Weltsicht ist auf rein rationalem Weg nicht zu den Grundideen zurückzuverfolgen, weil diese in der Regel tief im Unterbewusstsein verborgen liegen.
Allgemein gesprochen kommt der Erkenntnisprozess immer dann ins Spiel, wenn der Verstand mit negativen Gefühlen konfrontiert ist, weil er irgendeine Aufgabe mit seinem vorhandenen Wissen nicht lösen kann. Unwissen und Widersprüche auf rationaler Ebene erzeugen genau so negative Gefühle wie ungelöste praktische Probleme, unheilbare Krankheiten und extreme Ängste. Ohne den Erkenntnisprozess verfällt der Verstand in ein verdrängendes oder blockierendes Verhalten, das ihn von den negativen Gefühlen befreit. Aber das genaue Gegenteil - sich dieser Gefühlssituation offen auszuliefern - aktiviert die nicht rationalen Teile der Psyche und führt zur Vervollständigung und Berichtigung der Weltsicht.
Mit zunehmendem Einsatz des Erkenntnisprozesses wird der Weg über die negativen Gefühle überflüssig. Die negativen Gefühle entstehen ja nur aus Unwissen über die tatsächlichen Zusammenhänge. Je besser die nicht-rationalen Teile der Psyche in die Gesamtfunktion der Psyche zurückintegriert werden, um so direkter sind fehlende Informationen ohne den Umweg über negative Gefühle abrufbar. Der Erkenntnisprozess ist der Schlüssel zur Überwindung der rationalen Isolation. Ohne den Erkenntnisprozess hat der Verstand keine Konzepte für den Umgang mit den Situationen "Unwissen" und "widersprüchliche Weltsicht". Deshalb versucht er diese Situationen durch Illusionen auszublenden.